Siedlung »Westhausen«
Die Siedlung Westhausen wurde 1929-1931 erbaut und ist die letzte Siedlung des „Neuen Frankfurt“. Unter der Ägide von Stadtbaurat Ernst May entstanden ab Mitte der 1920er Jahren in Frankfurt eine Reihe von modernen Wohnsiedlungen. Die strenge Monotonie der Zeilenbauten in Westhausen wird nur durch die Farbgebung in verschiedenen Ockertönen durchbrochen. Die Siedlung ist ein herausragendes Beispiel für die heute und dem Schlagwort »Bauhaus« bekannten Utopie, durch rationale und funktionale Architektur einen »neuen Menschen« zu prägen und eine gerechte Gesellschaft aufzubauen.
Für Lena Bils ist diese historisch aufgeladene Architektur aber eher eine Hintergrundkulisse. Sie fasziniert zwar die Serialität und das Farbkonzept, das innerhalb der Wiederholung der immergleichen Baukörper Abwechslung schafft, aber ihr eigentliches Interesse gilt den Bewohner:innen, oder genauer gesagt: ihren Hinterlassenschaften. Denn bei ihren Streifzügen ist ihr aufgefallen, dass die Bewohner:innen recht freizügig ihren Sperrmüll vor die Tür stellen – Gegenstände, die auch etwas über die Bewohner:innen und die Siedlung erzählt.
Diesen Sperrmüll hat sie gesammelt und daraus direkt vor Ort skurrile Skulpturen gebaut, die sie an verschiedenen Orten der Siedlung platziert. Nach dem Fotografieren werden die Objekte wieder demontiert und der Sperrmüll an seinen Fundort zurückgebracht. Der Bildausschnitt variiert dabei leicht und bezieht die Umgebung in Anschnitten mit ein. In den Fotografien offenbart sich ein grundlegendes Spannungsfeld: Auf der einen Seite die historische Utopie, die für Sachlichkeit, Rationalität und Funktionalität steht, auf der anderen Seite der gelebte Alltag mit seinen Improvisationen, abgelebten Träumen und überflüssig gewordenen Gegenständen.
Die Titel der einzelnen Skulpturen hat Lena Bils von Büchern entnommen, die sei aus einem von den Bewohner:innen intensiv genutzten »offenen Bücherschrank« in der Siedlung Westhausen geliehen hat. Damit knüpft Lena Bils wieder an die historische soziale Utopie der Siedlung an: Welche Kraft könnte sich entfalten, wenn nicht jeder für sich alleine, sondern alle gemeinsam handeln würden?
Text: Friedrich von Borries